Predigt am Israelsonntag 2025

24. August 2025

Liebe Gemeinde,

wir wollen heute der Zerstörung der Stadt Jerusalem gedenken.

Im März des Jahres 70 n. Chr., zum Pessach-Fest, be­gannen die Römer unter Titus die Stadt Jerusalem zu belagern. Nach einigen Wochen nahmen sie die Vorstadt ein. Im August fiel dann die innere Stadt mit dem Tempel. Der Tempel, wo Gott Wohnung genommen hatte bei seinem Volk, wurde niedergebrannt, die überlebenden Bewohner getötet. Am 7. September des Jahres 70 n. Chr. war die Stadt vollständig unter römischer Kontrolle.

Das war entsetzlich, aber man mag sich fragen, warum sollten wir heute, fast 2000 Jahre später, dieser Katastrophe gedenken?

Noch unzählige Städte wurden danach zerstört. Millionen mehr Menschen ermordet oder vertrieben.

Ich möchte zwei Gründe nennen, warum das Gedenken für uns Christen in Deutschland und dieses zweite Proprium für den Israelsonntag so wichtig sind.

Der erste Grund ist, daß die Zerstörung Jerusalems die Urkatastrophe des Volkes Israel war, die das Weltgeschehen bis heute beeinflußt.

Damals begann die Diaspora, die Vertreibung und die Flucht der Juden aus dem gelobten Land. Sie erreichte ihren Höhepunkt rund 70 Jahre später nach dem niedergeschlagenen Aufstand unter Bar Kochba.

Die Juden wurden zu einem Volk, das zwar durch einen Gott, durch ein Buch und durch eine Sprache verbunden war, aber in der Diaspora ein Volk wurde, ohne Land.

Fortan waren sie in den Ländern, in die sie kamen, den Mächtigen und den Menschen dort schutzlos ausgeliefert. Es mag gute Zeiten für sie gegeben haben. Von solchen Blütezeiten z. B. in Deutschland zeugen die UNESCO Welterbestätten in Mainz, Worms und Speyer, als Wiege des europäischen Judentums. Besonders in Deutschland trugen Juden und Jüdinnen maßgeblich zur wissenschaft­lichen und künstlerischen Entwicklung des Landes bei.

Aber im Grunde waren es nur Inseln in einer endlosen Geschichte von Vertreibungen, Ausnutzung, Schmähungen, Drangsalierung, Pogromen und schließlich dem Holocaust.

Den zweiten Grund liefert Jesus selbst.

Wir hören den Predigttext aus dem Evangelium nach Lukas im 19. Kapitel. Ich beschränke mich auf die Verse 41-44.

41Und als er nahe hinzukam und die Stadt sah, weinte er über sie 42 und sprach: Wenn doch auch du erkenntest an diesem Tag, was zum Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen. 43Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen 44und werden dich dem Erdboden gleich­machen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du besucht worden bist.

Herr, tue meine Lippen auf, daß mein Mund deinen Ruhm verkündige. Amen.

Liebe Gemeinde, Jesus weinte als er die Stadt Jerusalem sah und ihr kommendes Ende prophezeite. Es gibt nur zwei Stellen im gesamten Neuen Testament, an denen davon berichtet wird, daß Jesus weinte. Dies ist eine davon.

Wenn Jesus weinte, sollten wir nicht auch weinen?

Die Zerstörung Jerusalems wurde früher auch von der Kirche instrumen­talisiert, um die Christen als Nachfolger des Volkes Israel in der Auserwählung Gottes in Position zu bringen. Die Zerstörung wurde deshalb als Strafe Gottes gedeutet, dafür daß die meisten Juden Jesus nicht als den Messias aner­kennen wollten.

Das ist, mit Verlaub, böswilliger Unsinn. Der Grund für die Zerstörung der Stadt war menschengemacht.

Als Teil seiner Mission, hatte Jesus stets versucht, das Volk davon abzubringen, sich gewaltsam gegen die Römerherr­schaft aufzulehnen. Ein militärischer Kampf gegen die Übermacht war aussichtslos. Aber sie erkannten nicht, was dem Frieden diente, und so kam es rd. 40 Jahre später, wie Jesus es prophezeit hatte.

Wenn Jesus weinte, sollten wir nicht auch weinen?

Kaum ein Ereignis, das fast 2000 Jahre zurückliegt, wirft so lange Schatten bis in unsere Tage.

Erst seit 1948 haben die Juden wieder eine Heimat in dem Land, das Gott Abraham und Mose versprochen hatte. Nie wieder wollten sie ausgeliefert, nie wieder schutz- und hilflos sein.

Doch schon am Tag der Staatsgründung wurde Israel von seinen arabischen Nachbarn überfallen. Es folgten weitere Kriege und Terrorismus. Die Region kam niemals zur Ruhe, bis heute.

Am 7.10.2023 überfiel die Hamas Israel und richtete ein grauenvolles Massaker an. Es war kein militärisches Gefecht. Es war ein Terroranschlag auf wehrlose Zivilisten unvorstellbaren Ausmaßes.

Und Jesus weinte.

Die Folgen waren für die Hamas absehbar und wurden billigend in Kauf ge­nommen. Den Preis zahlte die Zivilbevölkerung. Israel schlug hart zurück. Nie wieder wollten die Israelis hilflos, nie wieder Opfer sein.

Und Jesus weinte.

Seit dem ist auch in Deutschland viel passiert.

Es kommt vermehrt zu Anschlägen auf Synagogen und zu Schändungen von jüdischen Friedhöfen und Einrichtungen. Wie zu Zeiten der Nationalsozialisten wurden Häuser jüdischer Bewohner mit Davidsternen markiert, um die Menschen zu stigmatisieren, zu ängstigen und einzuschüchtern. Auf pro-palästinensischen Demonstrationen auf unseren Straßen wird offen Haß gegen Juden geschürt und zur Auslöschung des Staates Israel aufgerufen.

Und Jesus weinte.

Besonders unrühmlich taten sich einige unserer Uni­versitäten hervor, wo Plakate mit antisemitischen Inhalten aufgehängt und jüdische Studenten vertrieben wurden.

Jüdinnen und Juden berichten vermehrt, daß sie im Alltag Angst haben. Jüdische Kinder verschweigen in der Schule, daß sie Juden sind, weil sie Aus­grenzung fürchten. Jüdische Familien überlegen, ob sie Deutschland nicht besser verlassen sollten.

Und Jesus weinte.

Es war für Juden und Jüdinnen trotz aller Bemühungen durch den Staat, die Kirchen und Teile der Gesellschaft nie einfach in Deutschland nach dem Holocaust.

Bei mir im Garten breitet sich der Giersch gerade abgemäht, unterirdisch immer weiter aus, durchstößt die Erde und ist wieder da. Und so scheint in Deutschland der ver­meintlich überwundene Antisemitismus auch nie ganz zu verschwinden.

Sinn des Israelsonntags ist es, in Zeiten einer allgemeinen religiösen Beliebig­keit daran zu erinnern, daß wir Christen in besonderer Weise mit dem Juden­tum verbunden und daß wir Brüder und Schwestern sind.

Wir Christen beten den Gott Abrahams und Jakobs an. Wir lesen die Bücher Mose und die Propheten. Wir sprechen jeden Sonntag, als Teil der Eingangs­liturgie, einen Psalm aus dem Gebetbuch Jesu.

Nur mit dem Unterschied, daß unsere jüdischen Brüder und Schwestern in Deutschland das nur unter Polizeischutz tun können.

Das Höchste, das Juden und Christen verbindet, sagt uns der Jude Jesus selbst und zitiert dabei aus dem 5. Und dem 3. Buch Mose: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mat 22,37-39).

Juden und Christen sind verbunden im Auftrag Gottes, dem Doppelgebot der Liebe zu folgen.

Und Juden und Christen sind wohl auch verbunden in unserem alltäglichen Versagen, es zu erfüllen.

Es ist wohlfeil, gegen den fernen Krieg in Gaza Manifeste zu unterschreiben und zum Überfall der Hamas zu schweigen.

Es ist wohlfeil, allabendlich bei den Nachrichten das Vorgehen der Israelischen Armee in Gaza zu verurteilen.

Niemanden lassen diese Bilder kalt. Aber was hilft es dem Leid palästi­nensischer Kinder, wenn sich jüdische Schulkinder in Berlin ängstigen?

Die Frage lautet doch eher: Was können wir hier tun, und was hätte Jesus Christus getan, wenn er hierzulande die Übergriffe auf Juden sieht, die An­schläge auf Synagogen, die Gottesdienste unter Polizeischutz. Hätte er geweint? Hätte er uns ermahnt: „Wenn doch auch ihr erkenntet, was zum Frieden dient!“?

Wir können im Gaza Krieg nichts ausrichten. Doch vor unserer Haustür können wir etwas tun.

Im Evangelium nach Lukas lesen wir das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das Jesus erzählt. (Lk 10, 25–37).

Der unter die Räuber gefallene Mann wurde dem Samariter zum Nächsten, als dieser sich seiner erbarmte und seine Wunden versorgte, ihn in eine Herberge brachte und pflegte.

Der Nächste wird uns der, dem wir aktiv beistehen und helfen, und an dem wir so das Doppelgebot der Liebe erfüllen.

Nur wenige von uns hier in Scharnebeck kennen Juden und könnten ihnen direkt und persönlich beistehen. Würden wir in einer Halle rund 950 Menschen zusammenbringen, dann wäre statistisch gesehen, nur ein Mensch jüdischen Glaubens darunter.

Wir können auch keine Anschläge verhindern.

Aber wir können einschreiten gegen den alltäglichen, schleichenden und versteckten Antisemitismus. Die abfällige und fast beiläufige Äußerung im Gespräch, der „Judenwitz“, der nicht zu verwechseln ist, mit einem jüdischen Witz. Antisemitismus, der im Gewand einer moralisch überhöhten und ein­seitigen Kritik an Israel und dem Vorgehen in Gaza daherkommt. Es sind all die vielen Varianten von „Ja, der Überfall der Hamas war schlimm, aber …“. Wenn wir dem Antisemitismus in dieser Form nicht entgegentreten, wird der Giersch irgendwann die Macht im Garten übernehmen.

Wir sind nicht in der Weltpolitik und in Gaza gefordert. Wir sind gefordert, vor unsere Haustür zu handeln und zu verhindern, daß Juden sich, wie im Dritten Reich, wieder fürchten müssen.

Man muß kein unverbesserlicher Pessimist sein, um zu erkennen, daß der Kampf gegen den Giersch nie endet.

Daß ein Frieden im Heiligen Land noch lange nicht in Sicht ist, und es zu unseren Zeiten wohl kein Jerusalem geben wird, in dem die Völker friedlich beieinander leben.

Niemand scheint zu erkennen, was zum Frieden dient.

Doch so wird es nicht enden.

Christen und Juden sind auch vereint im Vertrauen auf den einen Gott. Er wird einst alle Tränen abwischen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz.

Sicher vertrauen Juden und Christen in unterschiedlicher Weise und verbinden die Erfüllung ihrer Hoffnungen mit unterschiedlichen Bildern.

Für uns Christen gilt, was Paulus im Galaterbrief sagt: „Da ist weder Jude noch Grieche, ... denn ihr seid alle einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,28)

Und schöner als in der Offenbarung des Johannes, können wir unsere Vor­stellung der Zukunft nicht ausdrücken, die Gott für uns alle bereithält:

„Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine für ihren Mann geschmückte Braut.“ (Off 21,2)

Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

 

[Predigt gehalten am Israelsonntag 2025 zu St. Marien in Scharnebeck. Prädikant Hans-Hubertus v. Brockhusen]

Prädikant Hans-Hubertus von Brockhusen